Im Frühjahr 1985 hatte ich einen sagenhaften Rechner mit dem klangvollen Namen Bildverarbeitungssystem Robotron A 6472 auf der Leipziger Messe zu betreuen. Digitale Rasterbildverarbeitung war 1985 eine noch ziemlich junge Technologie. Es war die Zeit der Parallel-, Vektor- und Pipelineprozessoren.
Ein Kunde kam mit Bilddaten auf einem 1/2 Zoll-Magnetband*. Feine Adern und Verzweigungen waren zu sehen. Zuerst hielt ich es für eine Gehirntomographie oder so etwas ähnliches.
Höhenmodell mit den Originaldaten in unkomprimiertem Jpeg.
Doch es war kein Tomogramm, vielmehr hatte ich das erste Digitale Höhenmodell in meinem Leben erblickt. Die dunklen Adern sind Flusstäler und die hellen „Gewebestrukturen“ Gebirgsmassive. Elbe, Weißeritz, Müglitz, Kirnitzsch ... alles drauf. Woher hatten die so etwas??
Für Schweremessungen braucht man sehr genaue Höhen. Quellen der Daten sind zu Oberflächenschwerewerten des Staatlichen Gravimetrischen Netzes (SGN) gehörige Normalhöhen im System SNN 1956 (**). Die Aufnahme erfolgte per Feinnivellement und wurde seinerzeit mit großem Aufwand vom Topographischen Dienst Sachsen realisiert.
Was man mit Höhenmodellen machen kann? Zum Beispiel schöne Schummerungen:
Heute sind Höhenmodelle etwas völlig Selbstverständliches. Doch damals haben wir so staunend vor den Monitorbildern gesessen, wie der alte Schubert 1835 auf seiner Dampflok.
Es ist wahrscheinlich, dass das seinerzeit mit großem Aufwand gerechnete Höhenmodell im Zuge der deutschen Vereinigung weggeschmissen wurde. Ein paar der Daten habe ich mir auf 1/2-Zoll-Magnetband abgezogen und, als 1990 das Kombinat Robotron liquidiert worden ist, mit nach Hause genommen.
Das Höhenmodell konnte ich dann freundlicherweise bei Prof. Albertz an der FU Berlin auf einer ollen PDP-11 einlesen. Über Sun-Workstation haben wir das dann auf Diskette rübergeholt.
426.496 Pixel****, jeder Punkt einzeln eingegeben, das muss man sich mal vorstellen. Was die da vor 40 Jahren für einen Aufwand getrieben haben. Heute sind Höhenmodelle etwas Selbstverständliches. Da haben wir dann die ersten digitalen Karten draus gemacht. Wie Nürnberg–Fürth 1835 und 40 Jahre später bist du ganz selbstverständlich mit dem Zug nach Paris gefahren. Die alten Magnetbänder auf meinem Dachboden bewahre ich sorgsam, als wären es die die ersten von Stephenson noch persönlich handgefeilten Dampfmaschinenkolben.
Wie es weitergeht ... hier.
Nachtrag 06.01.2022
Ende 2021 erhalte ich einen überraschenden Anruf – mein alter Kollege Siegfried Kuhn aus Leipzig. Es stimmt alles (wenngleich die Zeitenläufe manches ein klein wenig unscharf* haben werden lassen), Telefonnotiz:
- Die Höhendaten sind tatsächlich örtlich erfasst worden. Hier müsste einmal genauer nachgeforscht werden, wie die das damals wirklich gemacht haben. Doch wer weiß noch, wie die alten DDR-Schwerenetze aufgemessen worden sind? Auf jeden Fall müssen da einige zehntausend Punkte eingemessen worden sein**.
- Aus der „Geodäsie“ wurden die Höhen, was ja nach damaligem Stand der Technik zunächst noch händische Rechenblätter waren, auf Großrechner und Magnetbänder übertragen.
- Geplottet wurde auf einem Benson-Plotter, französischer Import. Dr. Kuhn hat dafür vielfältige Programme u. a. zur Erzeugung von Höhenlinien geschrieben, s. u. Was das für ein Gerät war, vgl. grob ungefähr hier.
- Der Clou war aber eine CDC 3300, die es in den 1970er Jahren in der Geophysik gegeben hat. Unter dem Kürzel CDC (Control Data Corporation) verbargen sich in den 1960er/70er Jahren amerikanische Großrechner, seinerzeit die schnellsten Anlagen der Welt. Der langjähriger Entwickler war Seymour Cray vor der Gründung seiner eigenen Firma. Dass die DDR 3 CDC 3300 importiert hatte, ist praktisch unbekannt. Eine Anlage besaß der Schiffbau Rostock, eine ist an die Leunawerke gegangen und eben eine Anlage hatte die Geophysik. Hauptspeicher 768 KByte, Rechenleistung (laut engl. Wikipedia) 800.000 Op/s. Zum Vergleich: der K 1630 (alias PDP 11) schaffte praktisch ungefähr 100.000 Op/s. Stückpreis 200.000 Dollar. Hat man sich geleistet.
- Hinten im Bild sind 4 Magnetbandeinheiten zu sehen. Es gab gigantische Magnetbandarchive, in denen u. a. die gesamte Seismik gespeichert wurde. Auf den Bändern wurden aber auch die Höhendaten gespeichert.
- Die beiden „Waschmaschinen“ rechts vor den Magnetbandschränken sind zwei Festplattenspeicher mit der damals als phänomenal geltenden Speicherkapazität von 2,5 MByte pro Einheit. Später in den 1980ern rechneten die Geophysiker dann auf ESER EC 1055. Die 1055 hatte dann schon 8 „Waschmaschinen“ zu je 29 MByte. Zusammen waren das immerhin 232 MByte.
- Ganz vorn rechts im Bild angeschnitten, Lochstreifenleser und -stanzer.
- Der Vorgängerrechner der EC 1055 war die EC 1040, ein Nachbau der IBM 360. In Moskau hat Dr. Kuhn einmal mit einer originalen IBM 360 zu tun gehabt, und zwar an einem originellen Aufstellungsort: „in der Rechnerkirche“. Das ist wörtlich gemeint. Weil man in der UdSSR für Kirchen keine Verwendung hatte, wurden Kirchengebäude eben als Rechnerräume genutzt. Computer waren eben etwas Sakrales.
- Um in die Bildverarbeitung reinzukommen, wurden die Höhendaten auf der 1055 in ein 512×833-Pixel-Rasterbild umgewandelt und als Rohdaten auf Magnetband ausgegeben. Das war dann das Band, das ich eingelesen habe. Weil die Höhen in Bytes passen mussten, wurden Werte mit Nachkommastellen auf etwa 3 m Genauigkeit skaliert und gerundet.
- Das Höhenmodell „Elbtalzone“ (das etwa von Meißen bis Bischofswerda reichte) sollte nur der Anfang sein. Es war vorgesehen, die gesamte DDR in solch einem Höhenmodell zu erfassen.
Ein paar Bilder, die mir Siegfried Kuhn freundlicherweise übersandt hat:
Höhenlinien (mit Benson-Plotter gezeichnet), Originalgröße etwa DIN A1):
Höhenschichten (Foto des Monitorbildes):
Schummerung (Foto des Monitorbildes):
Nachsatz: Und natürlich hatte die Geophysik nicht nur die besten und größten West- und ESER-Rechner, auch bei den Bildverarbeitungssystemen war das Beste gerade gut genug. Die hatten nämlich ein „73er System“. Das „Bildverarbeitungssystem Robotron A 6473“ war unser Flagschiff, welches aus 4 einzelnen („72er“) Displayprozessor-Arbeitsplätzen bestand und deshalb auch viermal so teuer war*****. Die 73er Anlagen waren für russische Raumfahrtzentren entwickelt worden und gingen fast ausschließlich in den UdSSR-Export. Möglicherweise war das Geophysik-System sogar das einzige 73er System, das Robotron überhaupt innerhalb der DDR installiert hat. Fast alle anderen Binnenmarkt-Anlagen waren „nur“ 72er Systeme.
Unschärfen:
* Dr. Kuhn hat mir die Daten nicht auf der Leipzigen Frühjahrsmesse, sondern in unserem Rechenzentrum in Berlin, Mohrenstraße 62 gegeben.
Leipziger Messe wäre schlecht gegangen, denn sowas war in der DDR alles Vertrauliche Verschlusssache. Kein Wunder also, dass
da sehr viel Wissen verloren gegangen ist.
** Bezeichnung SGN unsicher, andere Quelle ISGN 1971 (was aber wohl eher das BRD-Netz war). Die Punktdichte des SGN (alle Ordnungen)
soll bei 1,5 Punkten/km² gelegen haben.
*** Schwerenetze wurden nach damaligem Stand der Technik mit Feinnivellement aufgenommen. Doch so konnten in der Regel nur
Nivellementszüge aufgenommen werden, die grundsätzlich Straßen folgen. Das man mit Feinnivellement auf den Lilenstein hoch ist, halte
ich für unwahrscheinlich. Hier liegt die Vermutung nahe, dass viele Zwischenhöhen aus Topografischen Karten, also aus Höhenlinien ergänzt worden sind.
**** Das Kuhnsche Originalmodell war 512×833 Pixel groß. Um es in die 512×512er Bildspeicher reinzubekommen, haben wir rechts 321 Spalten weggeschnitten.
Südöstlich ab etwa Rosenberg fehlten die Daten. Darum habe ich rechts unten etwa 32×150=4800 Pixel aus Wanderkartenhöhenlinien (Ceské středohorí 1:50000)
in tagelanger Arbeit mit Texteditor ergänzt.
***** Möglicherweise war das „73er System“ der Geophysik auch nur eine „halbe“ A 6473 (also ein System mit nur 2
Displayprozessor-Arbeitsplätzen), an Oppulenz aber auch allemal ausreichend.
Etwa 2010: Initial
12.01.2022: Der legendäre Anruf von Dr. Kuhn.