Dr. Böhms Praxis für Wanderweg-Heilkunde

Die Regression

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Vorhergehendes Symptom: Infarkt
Nächstes Symptom: Unidirectionalitis

Regression

Deutsche Krankheitsbezeichnung: Wege-Schwindsucht

Das ist vielleicht die traurigste Seite von Dr. Böhms Wegeklinik. Sozusagen die Klinikkapelle. Regression ist die Wegenetzausdünnung in der Fläche, das flächenhafte Wege-Wegsterben. Hier ist weg-ärztliche Kunst am Ende ihres Könnens.

Wer beim Wegfall von Wegen an Besucherlenkung und Nationalpark-Kerzonen denkt, trifft nicht ganz ins Schwarze. Ein Weg stirbt erst dann, wenn ihn die Lebenskräfte verlassen. Gerade in Großschutzgebieten herrscht aber ein gewisses (wenn auch nicht unumstrittenes) Wanderaufkommen. Wege, die zwar umkämpft sind, aber nach wie vor begangen werden, werden nicht sterben, sondern leben.

Der Sterbesakramente bedürfen erst Wege erst dann, wenn sie ihren Zweck verloren haben. Und das ist etwas, was oft leise und vom Wanderer unbemerkt passiert.

Unsere Wege waren ja nur in den seltensten Fällen schon immer reine Wanderwege. Die meisten Wege sind die uralten Wege der Feld-, Weide- und Forstwirtschaft. Was gab es früher einmal für Unmengen an solchen Wegen. Als die Felder noch Hufen waren und jede Hufe von der des Nachbarbauern durch einen Weg getrennt war.

Die vielen Wege störten die großen Landwirtschaftsmaschinen und so wurden sie weggepflügt. Hier geht noch ein einzelner Weg zwischen riesengroßen Feldern entlang:

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Wenn dieser fehlt, dann sieht es so aus:

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Eine andere Weg-Todesursache ist der Straßenbau:

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Oder die Auskoppelung von großflächigem Weideland:

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So ein Zaun lässt sich auch als Infarkt diagnostizieren.

Exkurs Infarkt-Regressions-Komplexsymptomatik: Man könnte meinen, Infarkt und Regression wären weitgehend ähnliche Krankheiten. Das stimmt nur teilweise. Der Infarkt ist das Akutgeschehen, die Regression das Gesamtbild. Massenhafte Wegverschlüsse können zur Regression führen. Durch Regression geschwächten Wegenetzen kann ein einzelner Infarkt den Rest geben. Anderseits heilt die in vitalen Wegenetzen vorhandene Begangenheit Infarkte schnell wieder aus. Ist ein Wiederbegehbarmachen an der Infarktstelle nicht möglich, entstehen meist Ausweichwege. Wenn aber ein Weg nicht begangen wird, nützt auch das Beseitigen des Hindernisses nicht viel. Begehungslose Wegenetze gehen auch dann allmählich ein, wenn kein akuter Infarkt auftritt. Vgl. hierzu auch Infarkt.

Die Großflächenbildung in der Landwirtschaft hat uns in den vergangenen Jahrzehnten begleitet und ist schon lange weitgehend abgeschlossen. Nun aber erreicht die Regression unsere Wälder. Denn der hier ...

Regression

braucht keine Waldwege mehr. Im Gegenteil. Er fährt „queer Beet“ und verdichtet dabei den Waldboden. Deshalb geht die Forsttechnologie allmählich dazu über, die Rückegassen per GPS aufzuzeichnen und zyklisch zu verlegen. Dort, wo die Maschine bei einem Einschlag in den Wald gefahren ist, soll sie beim der nächsten Holzentnahme in 20 Jahren nicht mehr fahren. So hat der Waldboden ein paar Jahre Zeit, Verdichtungsschäden zu regenerieren. (Wollen mal hoffen, dass sich die GPS-Tracks dann noch lesen lassen.) Aber zufällig – quasi als Nebenwirkung – wird dies zum Untergang des alten forstlichen Wegenetzes führen.

Wir stehen erst ganz am Anfang dieser Entwicklung. In Schottland sind die beim Holzanbau schon ein bisschen weiter:

Forst kann man ja zu sowas nicht mehr sagen.

Hier wird der Wald abgeernet, wie ain Maisfeld. Wege braucht man da nicht mehr.

Wie friedlich ein solch alter Weg doch aussieht:

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Und doch ist dies ein ganz trauriges Bild, denn dieser Weg scheint verloren. Nicht, weil da keiner mehr entlanggehen könnte. Sondern weil man dem Weg ansieht, dass ihn schon seit Jahren niemand mehr entlanggegangen ist. Nicht das Zuwachsen lässt einen Weg sterben, sondern das Nicht-Begangensein. Selbst wenn dieser Weg dereinst völlig zugewachsen ist, könnte ihn eine Begangenheit wieder reanimieren. Doch eben diese Begangenheit fehlt und das sieht man dem Weg an. Das ist es, was dieses Bild so melancholisch stimmt.

Dieser Weg hier könnte Glück haben:

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Einst ein Nebenweg zur Holzrückung, haben ihn doch die Wanderer angenommen. Diese sichert ihm nun sein Auskommen, da die Forstnutzung in Wegfall geraten ist. Er ist nicht völlig zugewachsen, vielmehr ist aus dem einstigen Waldweg nun ein kleiner romantischer Pfad geworden.

Irgendjemand müsste einmal den querliegenden Stamm raussägen. Mehr braucht dieser Geselle nicht. Auf das es ihn noch viele Generationen geben mag.


Der gesunde Weg: Gesund ist vitales, ausreichend dichtes Wanderwegenetz. Man schaue einmal auf ein altes Messtischblatt 1:25000 von 1905, was gab es da doch einmal für viele Wege, die sich von Ort zu Ort durch die Landschaft zogen? Was waren das waren noch Zeiten, als Martin Luther problemlos bis Rom durchwandern konnte!

Pathogenese: Regression ist die Jahrhundertkrankheit des 20. Jahrhunderts, sie ist ernst und sie ist immer noch nicht im Abklingen. Welcher Landwirt, welcher Kommunalplaner und welcher Straßenbauer denkt bei seiner Landschafts-Inanspruchnahme schon an den Wanderer? Für die Pflanzen und Tiere gibt es die Umwelt-Verträglichkeitsprüfung und das Verschlechterungverbot. Für uns Wanderer gilt kein Verschlechterungsverbot. Und so werden nach wie vor Feldwege weggepflügt, die Landschaften werden immer zersiedelter und die Straßen immer breiter.

Therapie: Eigentlich kann man wenig machen, es gilt, dem Immunsystem der Wege zu vertrauen und fleißig zu wandern. Es sind dies keine guten Zeiten für den guten alten Weg. Oft schon gibt es keine andere Möglichkeit mehr, von einem Ort in den nächsten zu kommen, als auf einer stark befahrenen Landstraße.

Dennoch: Wegenetze haben eine robuste Natur. Sie sind über tausend Jahre gewachsen und nicht so schnell totzukriegen. Solange wir Menschen zwei Beine haben, wird man immer irgendwo langlaufen können. Letztendlich haben der Landwirt, der Planer und der Autofahrer selbst den Schaden, weil diese Wanderer dann über die eingekoppelte Weide, quer durch den Recyclingpark, vor der Leitplanke oder sonst irgendwodurch entlanglaufen.

Auch wenn der letzte Weg weggepflügt worden ist ...

Bildautor: anonym

... irgendwie ist immer ein Durchkommen:

Die Regression ist Ursache vieler Folgekrankheiten, die heute schon die Wanderqualität spürbar beeinträchtigen: Regression kann Asphaltitis, Multisignaturitis und Schlaengelitis verursachen. Der Infarkt tritt sowohl als Ursache, als auch als Folge und Begleitsymptom auf. Der unerfahrene Wanderer diagnostiziert die Regression oft unbewusst als Schein-Totalitaritis, s. hierzu Totalitaritis.

Nächstes Symptom: Unidirectionalitis


Durchsicht 18.03.2012, 12.01.2014, 28.08.2015, 19.10.2018

Nachtrag: Am 03.05.2014 mailte mir Achim Schindler, Dresden die Nachricht eines erbosten Landwirtes, der auf den Auerochsenkoppeln in Königstein-Ebenheit den Weg ausgekoppelt hat und den Weg energisch gegen Wanderbegängnis verteidigte.

Meine Antwort lautet: „Hallo Achim, kein einfaches Thema. Weideauskoppelungen sind eine Subform von Infarkt und Regression. — Zum Glück achten Landwirt und Wanderer sich meist gegenseitig und es wird der Wanderer das Interesse des Landwirtes achten und Fluren und ausgekoppelte Weiden nicht betreten, und der Landwirt wird das Interesse des Wanderers achten und durchgehende Wegverbindungen nicht unpassierbar machen. — Infarkt und Regression sind zwar letztendlich gefährlich und können mit dem Wegetod enden, im Frühstadium ist die Massierung aber meist gering, so dass Hausmittel gut wirken. Wenn Landnutzer und Wandervolk auf die Seele der Landschaft auchten, dann können die Selbstheilungskräfte zum tragen kommen und eine Heilung bewirken. Leben und Leben lassen. Übergroße Blindheit ist – wie auch sonst im Leben – ungesund und wenig von Nutzen.“

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