Großteil des Sachsenforstes soll Wildnis werden
Die beiden großen Naturschutzverbände BUND und Nabu haben eine Studie erstellen lassen: Wildnis in Sachsen, PDF hier. Ein brisanter Text.
Mehr Wildnis – ein ehrenwertes Anliegen, bei dem man eigentlich nicht „nein“ sagen kann: Immer mehr Arten sterben, also ist es höchste Zeit, dass die nationale Biodioversitätsstrategie des Bundes (NBS) umgesetzt wird. Im Vorwort der Studie wird als Anliegen genannt, 2 % der Landesfläche Sachsens künftig „streng zu schützen“. Das scheint nicht schwer zu sein. Im Wald sollen es 5 % sein, im Landeswald 10 %. Auch das sollte kein Problem sein, 90 % bleiben ja noch übrig.
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Ist aber Wildnis nicht etwas Schönes und Erstrebenswertes?
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Unbeantwortete Fragen
Also begeben sich die Autoren auf die Suche. Es werden drei Gruppen gebildet, 1. bereits vorhandene Wildnisgebiete, 2. vorgeschlagene Wildnisgebiete und 3. Gebiete in denen Wildnis potentiell möglich ist.
1. Bereits vorhandene Wildnisgebiete
A | NLP Sächsische Schweiz | 50 km² |
B | NSG Königsbrücker Heide | 51 km² |
Summe: | 101 km² |
101 km² sind aber viel zu wenig. Darum wird nach weiteren Wildnisgebieten gesucht. 19 Gebiete werden vorgeschlagen:
2. Vorgeschlagene Wildnisgebiete
1 | Kranichsee-Gebiet bei Johanngeorgenstadt | 215 km² |
2 | Tagebau Nochten | 104 km² |
3 | Authausener Wald (Dübener Heide) | 92 km² |
4 | Wälder nördlich Oberwiesenthal | 82 km² |
5 | Tharandter Wald | 53 km² |
6 | Südwestliche Sächsische Schweiz | 52 km² |
7 | NSG Steinbach (bei Marienberg) | 28 km² |
8 | Dahlener Heide | 40 km² |
9 | Beutwald westlich Rosenthal-Bielatal | 32 km² |
10 | Wermsdorfer Wald (bei Oschatz) | 32 km² |
11 | Töpferwald (bei Rechenberg-Bienenmühle) | 27 km² |
12 | Buchenwälder südlich Olbernhau | 27 km² |
13 | Werdauer Wald | 25 km² |
14 | Hartmannsdorfer Forst | 23 km² |
15 | Wälder bei Kipsdorf | 22 km² |
16 | Vorderer Grünwald (mit dem Kahleberg) | 21 km² |
17 | Dubringer Moor (Oberlausitz) | 14 km² |
18 | Wälder östlich Neuhausen | 15 km² |
19 | Wälder nördlich Bad Brambach | 7 km² |
Summe: | 911 km² |
In einer dritten Tranche kommen nochmals 4 sog. potenzielle Wildnisgebiete hinzu:
3. Weitere potenzielle Wildnisgebiete
20 | Truppenübungsplatz Oberlausitz | 127 km² |
21 | Daubaner Wald | 41 km² |
22 | Gohrischheide (bei Zeithain) | 28 km² |
23 | Goitzsche-Wildnis-Erweiterung | 16 km² |
Summe: | 212 km² |
101 km² bestehende Wildnisgebiete + 911 km² vorgeschlagene Wildnisgebiete + 212 km² potenzielle Wildnisgebiete, das sind zusammen 1224 km². Mit noch einigen Splitterflächen/Rundungseffekten kommen die Studienautoren auf 1247 km².
Die Studie zeigt (auf S. 14) folgende Karte:
Weil der Hintergund weiß ist, ist diese Karte allerdings einigermaßen nichtssagend.
Aussagekräftiger wird das Ganze, wenn man es mit einer Karte der Waldeigentumsarten von Sachsenforst unterlegt:
Der Landeswald ist in der Karte grün dargestellt (also ungefähr die Sachsenforst-Fläche), Bundeswald gelbgrün. Beides zusammen nennen wir Staatswald. Die fetten stehenden Ziffern und Buchstaben bezeichnen die in der Studie aufgeführten Wildnisgebiete.
Wie man sieht, decken die Wildnisgebiete fast vollständig den Landeswald ab: Fast alle Kammbereiche des Erzgebirges, Sächsische Schweiz, Tharandter Wald, Wermsdorfer Wald, Dübener und Dahlener Heide. All das soll Wildnis werden. Ein besonders großes Gebiet ist das „Kranichsee-Gebiet“, das über 35 Kilometer von Eibenstock/Johangeorgenstadt bis Klingenthal/Markneukirchen reicht.
Da stellt man einigermaßen entsetzt die Gegenfrage:
Welche Wälder bleiben da überhaupt noch übrig?
Diese sind in der Karte dunkelgrün kursiv beschriftet: Rund um Dresden einige Wälder (Dresdner Heide, Massenei, Friedewald, Laußnitzer Heide). Im Westerzgebirge einige Randwälder nördlich/südwestlich von Kottenheide, bei Schwarzenberg und bei Geyer. Im Osterzgebirge fast nichts. Im Elbsandstein praktisch auch so gut wie nichts. Colditzer Forst, Hohwald, einige kleinere Flächen bei Siebenlehn und Lengefeld.
Das wars dann. Sachsenforst adé.
Ist aber Wildnis nicht etwas Schönes und Erstrebenswertes?
Wildnis wird oft als eine Art Märchenwald voller tausendjähriger Eichen, Urparadies oder Landliebe-Glückswald angesehen. Bange Frage: Kann man dann noch einfach in so einen Wald hineingehen, wie seinerzeit Rotkäppchen, Schneewittchen oder Hänsel und Gretel?
Eher nicht, und dafür gibt es zwei Gründe.
Zum einen gelten „Wildnisgebiete“ der herrschenden Naturschutz-Lehrmeinung zufolge als „Totalreservat“. Da darfst du nicht mehr rein. Wie Wildnisgebiete entwickelt werden, steht in den QgW, den Qualitätskriterien für großflächige Wildnisgebiete des Bundes: „Das Leitbild ist weitgehend kompatibel mit IUCN Ib“ (3.1). Zu weiterer Erläuterung fehlt hier der Raum, nur soviel: Die Königsbrücker Heide ist IUCN Ib. Wenn man die Studie konsequent zu Ende denkt, bedeutet das, der Großteil des sächsischen Landeswaldes wird genau so ein No-Go-Area wie die Königsbrücker Heide werden. Eigentlich unglaublich, aber genau in diese Richtung geht es. Folgerichtig weist die Studie auch Wandern, Ski fahren, Rad fahren und Klettern regelmäßig als „potenziellen Konflikt“ aus. All das geht dann natürlich nicht mehr oder nur noch streng reglementiert.
Der zweite Grund: Man muss da überhaupt nichts verbieten und besucherlenken. Wozu gibt es schließlich Borkenkäfer, Herbststürme und Waldbrände? Einfach nur ausreichend lange Prozessschutz machen. „Natur Natur sein lassen“ und alles erledigt sich von selbst. Da reicht schon ein mittleres Sommergewitter und alle paar hundert Meter liegt ein Baum quer auf dem Weg. Der bleibt einfach liegen. Und schon hat sich das mit den Radfahrern und Skiläufern erledigt. So einfach ist das. Übrigens wird mit der Methode auch der oft gebashte „querfeldein rasende Mountainbiker“ ganz schnell handzahm. Alle 30 Sekunden ein querliegender Baum – das macht der nicht lange mit. Wanderer sind etwas hindernishärter, aber irgendwann ist auch für sie Schluss:
Im Nationalpark Sächsische Schweiz läuft seit 30 Jahren ein diesbezügliches Langzeitexperiment. Zuerst kommt der tote Borkenkäferwald und dann das Fichtenmikado.
Der Wald sieht dann einfach eben mal so aus:
Oder so:
Oder auch so:
Und das von Tharandt bis Freiberg, von Eibenstock bis Markneukirchen – viel Freude beim da Durchwandern.
Haben wir überhaupt eine auch nur blasse Vorstellung davon, was Wildnis eigentlich bedeutet?
Ich glaube nicht. Hartmut Landgraf hatte im Fulufjället plötzlich nur noch 1½ Liter Wasser. Was wir oft ausblenden: Wildnis ist menschenfeindlich, lebensbedrohlich und gefährlich.
In Sachsen gibt es 2087 km² Landeswald (S. 5), wozu noch etwas über 300 km² Bundeswald und sonstige Flächen hinzuzurechnen sind, die ebenfalls verwildern sollen. Bemessungsgrundlage also etwa 2400 km². Die laut Studie zum Landnahme vorgesehene Fläche misst 1247 km². Damit kommt man auf einen Verwilderungsflächenanteil von 52,0 %. Als restliche Forstflächen verbleiben lediglich 48,0 %.
In Sachsen gibt es 5280 km² Waldfläche insgesamt (S. 5). Unsere 1247 km² entsprechen 23,6 % des sächsischen Waldes. Schließlich noch der Vergleich mit der Gesamtfläche des Freistaates, 18450 km². Auf diese Fläche bezogen, entsprechen unsere 1247 km² 6,7 % der Landesfläche.
Das vergleichen wir nun einmal mit der Vorgabe aus dem Vorwort:
-
Statt 2 % der Landesfläche sind es nun auf einmal 6,7 %.
-
Statt 5 % der gesamten Waldfläche sind es nun plötzlich 23,6 %.
- Statt 10 % Landeswaldanteil werden nun 52,0 % beansprucht.
Selbst unter der Annahme, dass sich die Studienautoren hier ein wenig „Verhandlungsspielraum“ genehmigt haben sollten: Ein Plus von 10 auf 52 zeugt von einer Unschärfe, die es in einer wissenschaftlichen Studie nicht geben sollte.
Oder doch? Denn mittlerweile hat die Welt-Naturschutzkonferenz in Montreal (Stichwort 30×30-Strategie) schon 30 % Schutzgebiete beschlossen. 30 % dieser 30 % sollen wiederum „streng geschützt“ werden. So sind aus dem 2-%-Flächenanteil im Freistaat schon einmal 9 % geworden. Da braucht man gewiss auch die viereinhalbfache Menge Landeswald. So gesehen sind 52 % nicht einmal allzu reichlich kalkuliert — na die wickeln uns ja schön ein.
Was wird eigentlich aus dem Wanderer und der Wanderin? Wenn man das Wandern auf 52 % der Landeswaldfläche verbietet, wo können wir dann künftig noch in den Wald gehen? In den 48 % Restwäldern, wo uns dann gewiss „doppelter Besucherdruck“ vorgeworfen wird? Na, da werden die Naturschützer erst meckern. Dass wir dann dort, „wo es bisher noch ruhig war“, auch noch „alles kaputt machen“.
Was wird aus dem Tourismus im ländlichen Raum? Wenn weite Teile sächsischer Wanderlandschaften zu No-Go-Areas werden, was werden die Gastwirte, Touristiker und Vermieter in diesen oft wunderschönen Gegenden dazu sagen?
Was wird aus dem Staatsbetrieb Sachsenforst werden – wenn es nur noch halb so viel Wirtschaftswald gibt? Eine bange Frage, die sich vor allem manch ein Förster, manch eine Försterin stellen wird. Man kann doch nicht bloß noch „Monitoren“ und „Evaluieren“.
Wie soll künftig der Holzbedarf des Freistaates gedeckt werden? Natürlich lässt sich Holz auch importieren. Nur wird anderweitig doch immer viel Wert auf „lokale Wertschöpfung“ und „kurze Transportwege“ gelegt. Wie sieht es damit aus?
So bleibt manche Fragen offen. So dass zu hoffen bleibt, dass sich die in der Studie angeregten Pläne doch besser nicht in voller Kraft entfalten mögen.
Doch auch hier gilt: Nicht verrückt machen lassen. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Bedenklich ist das Ausmaß der in der Studie skizzierten Landnahme dennoch. Gegen etwas mehr Naturnähe in Sachsens Wäldern wird gewiss nichts einzuwenden sein – vorausgesetzt, das Ganze erfolgt mit Augenmaß.
26.06.2023 Initial. Es können noch einige Tippfehler drin sein.
04.08.2023 Releasestand.
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