Totalreservat Sächsische Schweiz geplant? (Kapitel 1)

Niemand hat die Absicht den Nationalpark Sächsische Schweiz in ein Totalreservat umzuwandeln

Kapitel 1 · Kapitel 2 · Kapitel 3 · Kapitel 4 · Kapitel 5

 

Kapitel 1: Nanu, Totalreservat?

Das Waldbrandgutachten von Prof. Müller

Kernzone

In dem Waldbrandgutachten von Prof. Müller taucht ein Wort auf, das eigentlich unzutreffend ist: Das Wort „Totalreservat“.

Es ist dies ein Waldbrandgutachten, aber das ist hier nicht das Thema. Thema ist, dass Prof. Müller laufend und systematisch das Wort „Totalreservat“ benutzt und zwar als Synonym für „Nationalpark“ und „Nationalpark-Kernzone“.

Das hat Prof. Müller möglicherweise gar nicht so gemeint. Bedenklich ist es dennoch und wir haben gelernt, da äußerst aufmerksam zu sein. Totalreservat ist ja auch kein rechtlich definierter Begriff. Kurze Volltextsuche in Bundesnaturschutzgesetz und im Naturschutzgesetz des Freistaates Sachsen: Null Treffer. (Mag sein, es gibt Treffer in subalternen Behörden-, Verordnungs- und Empfehlungstexten, das sei hier unbenommen.)

Freilich ist der Begriff in der Naturschutz-Fachliteratur gängig, gewöhnlich wird Totalreservat mit „TR“ abgekürzt. Ebenso gibt es einen allgemeinen Sprachgebrauch. Wir alle wissen ungefähr, was ein Totalreservat ist. Wenn du als Wanderer oder Wanderin „Totalreservat“ hörst, weißt du: Hier darf ich nicht rein. So auch exemplarisch das Spektrum-Lexikon der Biologie: „Totalreservat, ein Schutzgebiet, in dem jegliche Nutzung und der Zutritt untersagt sind (z.B. Bannwälder, einzelne Naturschutzgebiete oder Kernzonen von Schutzgebieten).“ Vgl. auch Wikipedia.

Moment mal. Äußerste Vorsicht. Was steht da?

In Kernzonen von Schutzgebieten ist der Zutritt untersagt. Das haben die da so reingeschrieben und es ist ja auch eingängig. Das aber bitte mal bissl weiterdenken:

 

Naturschutzbehörde: „Könnte es auch sein, dass da mit ,Schutzgebiet‘ ein Nationalpark gemeint ist?“
Wanderer: „Ja, Euer Ehren, gewiss doch.“

„Also ist die Kernzone eines Nationalparks ein Totalreservat?“
„Hm, äh, wenn man das so liest, sicherlich, äh, ja.“

„Eben. Und jetzt bitte, Angeklagter Wanderer, wie groß sind diese Kernzonen denn so in Nationalparks?“
„Laut Bundesnaturschutzgesetz 51 %.“

„Nein, 75 %.“
„Ja, äh, aber im Gesetzestext steht doch, ,in einem überwiegenden Teil des Gebietes‘. Das ist doch mit 51 % erfüllt.“

„Erzählen Sie nicht, schonmal was von empfohlenem Standards, internationalen Naturschutzempfehlungen und nationaler Biodiversitätsstrategie gehört? Ganz klar 75 %.“
„Ja, aber, äh, und ...

„Nichts da ,und‘ und ,im Gesetz steht‘. Was bilden Sie sich ein, Wanderer, wie schnell wir so eine Nationalparkverordnung novellieren, und dann steht dort – ratz batz – 75 % Kernzone drin. Es ist nun mal ein Nationalpark, Wanderer. Mindestfläche. Wenn es in den ersten Jahrzehnten noch keine 75 % sind, langfristig kommt man da gar nicht drumrum, internationale Standards. Und eben, Kernzone ist Totalreservat. Und in einem Totalreservat ist jeglicher Zutritt untersagt. Wenn wir dich da auf ein paar Hauptwanderwegen ausnahmsweise mal doch noch reinlassen, sei dankbar. Die Verbote dienen dem Schutz der Natur vor dir, Angeklagter Wanderer. Denn du machst die Natur kaputt und du störst und du verureinigst und du vermüllst und verursachst Trittschäden und beunruhigst geschützte Tiere und zertrittst geschützte Pflanzen. Der Nationalpark ist eines der allerletzten Refugien der reinen und unberührten Natur.

Sei glücklich, dankbar und stolz auf den Nationalpark, Wanderer. Und jetzt nichts wie raus hier.“

 

 

Hausaufgabe: Wo ist der Denkfehler?

Lösung:

  1. Ein Nationalpark ist kein Totalreservat.
  2. In einem Nationalpark gibt es zwei primäre und damit gleichberechtigte Ziele. Das ist zum einen der Naturschutz, mit dem Naturschutz aber gleichberechtigt die Erholung, Freude und Bildung des Menschen. So steht es in der IUCN-Definition des Nationalparks; der Nationalpark stellt IUCN-Kategorie II dar. Dies ist eine international allgemein anerkannte Festlegung und Empfehlung, die zwar keine in Deutschland gültige Rechtsnorm darstellt, jedoch Vorbild ist.
  3. Aber auch für eine Nationalpark-Kernzone ist in den Gesetztestexten keine andere Betretungsnorm erkennbar, wie in einem Nationalpark außerhalb der Kernzone. (Die Einführung von Kernzonen mit anschließender allmählicher, oft klammheimlicher Zerstörung der Wanderwege erfolgt typischerweise erst durch das Verwaltungshandeln der Naturschutzbehörden.)
  4. Kernzonen sind regelmäßig wesentliche Bestandteile eines Nationalparks. Also sollte selbstverständlich auch in der Kernzone eine allgemeine nationalparkgemäße Zugänglichkeit gewahrt sein, keinesfalls ein Totalverbot.
  5. Insofern ist auch ein „Segregierungsmodell“, demzufolge sich der Wanderer mit Wandern außerhalb der Kernzone zufriedenzugeben hat, abzulehnen. Auch und gerade die Kernzone muss, weil sie ein wesentlicher Nationalparkteil ist, der Erholung, Freude und Bildung des Menschen dienen und umfassend betretbar und erlebbar sein. Mit dem Abdrängen des Wanderers in eine Rest-Nichtkernzonenfläche wäre ein Landschaftserleben nur noch stark eingeschränkt möglich: Auch die Kernzone ist kein Totalreservat.
  6. Nationalparke bilden IUCN-Kategorie II. Mit den Kategorien Ia (Strenges Naturreservat) und Ib (Wildnisgebiet) gibt es eine weitere IUCN-Schutzgebietsgruppe. Es ist unbenommen, diese als Totalreservate zu bezeichnen. Römisch I ist aber nicht römisch II. Ein Totalreservat ist ausdrücklich etwas anders als ein Nationalpark und ein Nationalpark ist eben kein Totalreservat.
In einem Kategorie-I-Gebiet mag das Wandern verboten sein. Daraus kann man jedoch nicht ableiten, dass sich dies in einer Art Analogieschluss auf Kategorie II übertragen würde, insbesondere dadurch nicht, dass man allmählich damit anfängt, einen Nationalpark (oder dessen Kernzone) Totalreservat zu nennen.

Den Nationalpark Sächsische Schweiz (oder dessen Kernzone) als Totalreservat zu bezeichnen, ist unpräzise, von irreführender und tendenziöser Art, letztendlich und zusammengefasst eins: falsch.

Sehr gut. Schulnote 1. Setzen.

 


Nachtrag 04.03.2023: Vielleicht ist es aber gar kein Zufall oder Versehen, wenn der Nationalpark Sächsische Schweiz (IUCN II) allmählich in Richtung Totalreservat (IUCN Ib) abzudriften scheint? Drei soeben aufgefundene Veröffentlichungen werfen ein neues Licht auf die Sache. Es könnte durchaus eine Strategie des deutschen und europäischen Naturschutzes sein, Nationalparks langfristig in Wildnisgebiete umzuwandeln (und dabei die Zugänglichkeit stark einzuschränken). Und Prof. Müllers „Versprecher“ mag nicht so gemeint sein, ist aber eine bereits intern im Umweltministerium allgemein übliche Bezeichnungsweise. Hier unsere ausführliche Recherche.


Nachtrag 18.06.2023: Auch die beiden Naturschutzverbände Nabu und BUND bezeichnen in ihrer Studie Wildnis in Sachsen 2019 weite Teile des Nationalparks regelmäßig als „Totalreservat“, siehe Karte Seite 11. Offenbar schreiben die Naturschutzverbände den Sächsischen-Schweiz-Wanderer völlig auf Null ab. Das ist energisch zurückzuweisen. — Im Übrigen schlägt das Werk vor, zahlreiche große Waldgebiete vom Tharandter Wald über die Dahlener Heide bis zum Erzgebirgskamm zu „Wildnisgebieten“ zu machen. Wandern, Kletteren und Skifahren stellt hierbei regelmäßig einen „potentiellen Konflikt“ dar. Klar wohin das führen soll. Man schmiedet allen Ernstes Pläne, den Menschen aus weiten Teilen der Wälder Sachsens (bis auf wohl wenige Hauptwanderwege) völlig auszusperren. Auch dem ist entschieden entgegenzutreten. Mehr dazu hier


 

04.02.2023 Initial. Es können noch einige Tippfehler drin sein.
04.03.2023 Nachtrag
27.05.2023 Prof. Müller präzisiert
18.06.2023 Wildnisstudie Sachsen Nabu/BUND entdeckt
29.02.2024

Die Links unterliegen nicht dem Änderungsdienst und können schnell einmal zu Deadlinks werden.

Zum Seitenanfang